ReportageSicher durch den Winter
Den Schneemassen zu Leibe rücken
Urs Wyers Tag beginnt gewöhnlich schon sehr früh. Der für den Sektor 11, also für das Goms zuständige Strassenmeister ist einer der ersten, der frühmorgens das Gebäude an der Kantonsstrasse 275 in Brig-Glis, in dem auch die Dienststelle für Mobilität ihre Büros hat, betritt. Er ist verantwortlich für die technische wie auch administrative Leitung des Strassenunterhalts in seinem Zuständigkeitsbereich. Seine Vormittage widmet er erst meist administrativen Arbeiten. Dazu gehört unter anderem die Ausschreibung von Aufträgen für Instandsetzungs- und Unterhaltsarbeiten oder das Einholen der entsprechenden Kostenvoranschläge. «Zu meinen Aufgaben zählt auch die Analyse von Bau- und Signalisationsgesuchen, die an der Kantonsstrasse angrenzen. Diese beurteile ich basierend auf dem Strassengesetz.»
Es kann durchaus vorkommen, dass er sich vor Ort persönlich ein Bild der Sachlage macht und erst dann darüber befindet. Dies wiederum verbindet er mit seinem täglichen Rundgang, der später an der Tagesordnung steht. «Ich versuche jedes Mal, einen anderen Abschnitt des Sektors abzufahren.» Dabei spricht er sich regelmässig mit den Strassenwärtern ab, die ihm Besonderheiten und Auffälligkeiten rückmelden. So auch heute, wo er unterwegs auf zwei seiner Mitarbeiter trifft. Abgesehen von einem kleineren Lawinenniedergang im Obergoms, der aber keine Auswirkungen auf den Strassenverkehr hat, scheint soweit alles in Ordnung.
Die Winterstrasse ist eine Besonderheit an meinem Sektor.
Jeder einzelne Abschnitt bringe so seine Eigenheiten mit, erklärt Wyer. Eine Besonderheit etwa sei die Winterstrasse zwischen Geschinen und Oberwald. «Sollte die Hauptstrasse aufgrund von Lawinengefahr gesperrt bleiben, können wir den Verkehr direkt auf diese geräumte und gesicherte Strasse umleiten.»
In Oberwald angekommen, zeigt Urs Wyer auf, wie weit Verkehrsteilnehmer im Winter mit ihrem Fahrzeug kommen. Die Passstrassen von dort aus auf die Grimsel, die Furka oder ab Ulrichen auf den Nufenen bleiben zwischen Ende Oktober und Juni nämlich geschlossen. Diese drei Alpenpässe fallen ebenfalls in den Zuständigkeitsbereich des Sektors 11. Deren Schneeräumung und anschliessende Öffnung im Frühjahr stellt im Alltag des Strassenmeisters, der seine Funktion seit knapp anderthalb Jahren innehat, ein ganz besonderes Ereignis dar.
«Im vergangenen Jahr war ich zum ersten Mal bei den Räumungsarbeiten dabei. Das war angesichts des harten Winters und den Schneemengen schon speziell. Viele Tage und Nächte lang haben mich diese Arbeiten beschäftigt. Denn es bleibt immer ein gewisses Restrisiko aufgrund von Naturgefahren bestehen. Die Verantwortung ist gross.» Aus diesem Grund hat Urs Wyer bei sich zuhause den Schutzpatron Hubertus aufgestellt, an den er vor der Passöffnung ein paar gute Gedanken richtet.
Das eingespielte und erfahrene Team konnte die Arbeiten dennoch knapp vier Wochen nach deren Beginn beenden, so dass alle drei Passhöhen in Rücksprache mit den Nachbarkantonen Bern, Uri und Tessin am 8. Juni 2018 für den Verkehr freigegeben werden konnten.
Die Räumungsarbeiten auf den drei Pässen kommen einem ziemlichen Kraftakt gleich. Gegen Ende April, Anfang Mai wird Wyer die Gebiete per Helikopterflug rekognoszieren und anschliessend beurteilen. So kann er den Beginn der Schneeräumung genauer festlegen. Nicht weniger als 30 Personen und zehn Schneefräsen standen letztes Jahr dafür im Einsatz. Die Arbeiten beginnen in der Regel frühmorgens und enden Anfangs, spätestens Mitte Nachmittag, da die Sonneneinstrahlung die Gefahr von Nassschneerutschen erheblich erhöht. «Die Schneemauern waren zuweilen bis zu 16 Meter hoch. Mittels GPS haben wir den genauen Standort der Strasse bestimmt und diese abgesteckt, da diese nicht mehr auszumachen war.» Die enormen Schneemassen mussten teils mit einem Dumper an geeignetere Stellen weggebracht werden.
Mit vereinten Kräften gegen den Schnee
Über Nacht sind in der Talebene einige Zentimeter Schnee gefallen. Für die Mitarbeiter des Werkhofs der Autobahn A9 in Siders bedeutet dies Winterdienst. Denn sobald drei Zentimeter Schnee auf dem Boden liegen, ist der Einsatz von Schneepflügen erforderlich. Um während der kalten Jahreszeit schnell intervenieren zu können, steht ab 1. November rund um die Uhr ein Pikett-Dienst zur Verfügung. Dieser besteht aus sieben Mitarbeitern, die innert 30 Minuten nach Alarmeingang ausrücken können
Die Männer in Orange sind schichtweise zwischen 4 und 22 Uhr im Dienst, decken aber einen 24-Stunden-Pikett-Dienst ab. Es gilt zum einen, die Fahrbahnen der Autobahnabschnitte zwischen Conthey und Siders-Ost und zwischen Susten und Gampel-West für den kommenden Berufsverkehr von der weissen Schicht zu befreien und zu salzen. In ihren Zuständigkeitsbereich fällt auch der Abschnitt Pfyn zwischen Siders-Ost und Susten. Der Auftrag ist simpel: Die Nationalstrassen und ihre technischen Anlagen müssen so instandgehalten und betrieben werden, dass ein sicherer und reibungsloser Verkehr gewährleistet ist und die Strassen so weit wie möglich uneingeschränkt genutzt werden können.
Innerhalb von zwei Stunden muss der Winterdienst deshalb eine erste Räumung vorgenommen haben. Das heisst, die Mitarbeiter müssen ihren Sektor einmal komplett abgefahren haben. Der Schlüssel zum Erfolg liege in der Antizipation und Schnelligkeit bei Interventionen, verrät Werkhofchef Mario Rossi. «Es braucht daher zuverlässige und aktuelle Informationen über das Wetter. Dafür steht uns einerseits der Wetterdienst MeteoSchweiz zur Verfügung oder aber die Wettersonden am Fahrbahnrand, welche Daten über die Feuchtigkeit, Boden- und Lufttemperatur, Windstärke- und richtung sowie den Zustand der Strasse, etwa ob sie trocken oder nass ist oder ob Salzrückstände vorhanden sind, sammeln und übertragen.»
Im Kampf gegen Glatteis und schneebedeckte Fahrbahnen kommt neben gewöhnlichem Streusalz auch eine Salzlösung zum Einsatz. Diese bleibt sofort kleben und haftet länger, wodurch Salz eingespart werden kann. Die Salzlösung, auch Sole genannt, funktioniert bei Temperaturen von bis zu minus acht Grad. Insgesamt verbraucht der Werkhof in Siders pro Winter gut 1000 Tonnen Salz sowie 59'000 Liter Salzlauge.
Die Schneeräumung erfordert grosse Konzentration. Wir müssen besonders darauf achten, andere Fahrzeuge nicht zu beschädigen.
Es herrscht reger Betrieb im Werkhof, jedes der insgesamt sieben Fahrzeuge ist an diesem Morgen unterwegs. Drei davon fahren ins Oberwallis, vier in den Sektor Mittelwallis. Der aus jeweils mindestens zwei Fahrzeugen bestehende Schneeräumkonvoi muss so funktionieren, dass Verkehrsteilnehmer sich nicht zwischen den einzelnen Schneepflügen positionieren können. Das vorangehende Fahrzeug warnt den zweiten Fahrer vor Hindernissen, damit dieser solche umgehen kann. Die Geschwindigkeit ist angepasst, um Geräte und Anlagen zu schonen. «Die Schneeräumung erfordert grosse Konzentration. Wir müssen besonders darauf achten, andere Fahrzeuge nicht zu beschädigen», sagt Teamleiter Emmanuel Grand. Ein besonderes Augenmerk gelte ausserdem potenziellen Fussgängern auf angrenzenden Strassen, den Lichtsignalanlagen, Notrufsäulen, Leitpfosten, Lärmschutzwänden und dem besonders empfindlichen und teuren Glasfasernetz.
Damit so ein geschäftiger Tag ohne Zwischenfälle abläuft, braucht es letztendlich immer auch das Verständnis der Verkehrsteilnehmer und deren Bereitschaft, sich den herrschenden Wetterverhältnissen anzupassen. Schliesslich kümmern sich diese Mitarbeiter Tag und Nacht um unser aller Sicherheit.
Ein Kanton in Bewegung
Kein anderer Kanton in der Schweiz kennt so viele unterschiedliche Naturgefahren wie das Wallis. Das Spektrum ist breit und reicht von Lawinen, Steinschlägen, Erdrutschen, Murgängen über Hochwasser bis hin zu Erdbeben. Während die Lawinengefahr in den nächsten Jahren mehr oder weniger stabil bleiben sollte, müsse mit einer potenziellen Zunahme von Murgängen gerechnet werden, sagt Kantonsgeologe Raphaël Mayoraz. «Der Klimawandel trägt seinen Teil dazu bei. Langfristige Prognosen zeigen, dass Sommergewitter und Starkregenereignisse in den kommenden Jahrzehnten häufiger und intensiver werden dürften. Diese Ereignisse führen zu Murgängen und Schlammlawinen, die sich insbesondere im Permafrostgebiet von Berggipfeln, aber auch in mittleren und niedrigen Höhen lösen können und talwärts fliessen, wie dies etwa im Sommer 2018 mehrfach der Fall war.»
In den nächsten Jahren muss mit einer potenziellen Zunahme von Murgängen gerechnet werden.
Eine Schlammlawine richtete im August 2018 grossen Sachschaden in Chamoson an.
So erklärt der Geologe das immer häufiger auftretende Naturereignis, während er das Bachbett des Saint-André überblickt. Jenes Wildbachs im Dorf Grugnay auf dem Gemeindegebiet Chamoson, in dem im vergangenen August eine riesige Schlammlawine durchgewälzt ist. Dort sind aktuell Arbeiten im Gang, um das Bachbett zu erweitern und den Boden unterhalb der Brücke zu senken. Dadurch erhalten mögliche künftige Murgänge mehr Raum und richten so weniger Schaden an. Derzeit gibt es etwa 30 erfasste Entstehungsorte für Murgänge im Wallis. «Gefahrenkarten, regionale Beobachtungsdienste und Messungen ermöglichen es uns, potenzielle Risiken frühzeitig zu erkennen und mittels Sicherheitsmassnahmen zu begrenzen», führt Mayoraz weiter aus.
In etwas erhöhter Lage, oberhalb des benachbarten Leytron, werden weitere solche Sicherheitsmassnahmen umgesetzt. An einer besonders durch Steinschlag gefährdeten Stelle montieren Bauarbeiter Steinschlagnetze. Bevor diese angebracht werden können, steht erst einmal die Verankerung der Stahlstützen im Boden an. Dafür bohren die Männer etwa vier Meter tiefe und zehn Zentimeter weite Löcher. «Es gibt verschiedene Arten von Auffangnetzen. Da diese grossen Kräften standhalten müssen, bedarf es einer vorgängigen Berechnung ihrer Widerstandskräfte.» Dabei würden verschiedene Faktoren eine Rolle spielen. Etwa die Steingrösse, ihre Geschwindigkeit, die Stärke des Rückstosses oder aber die Lage der Felswand, präzisiert Mayoraz.
Das Gebiet rund um das etwas weiter oben gelegene Dorf Montagnon leuchtet auf der Gefahrenkarte Geologie derzeit rot. Diese Farbe weist auf eine aktive Permanentrutschung hin. Erkennbar machen sich diese Rutschungen unter anderem in Rissen und Wellen im Strassenbelag. «In solch gefährdeten Ortschaften ist es von grosser Bedeutung, dass die Bodenbewegungen in die Raumplanung miteinbezogen werden. Früher wurde dies nicht gemacht, das Ergebnis davon ist heute klar ersichtlich», bemerkt der Kantonsgeologe und zeigt dabei auf ein ziemlich schief stehendes Häuschen. Dadurch werde heute viel Schadensbegrenzung in Form von Reparaturarbeiten betrieben. Als vorbeugende Schutzmassnahme nennt er beispielsweise Drainagen, mit deren Hilfe dem Boden Wasser entzogen wird, wodurch das Gebiet wiederum an Stabilität gewinnt.
Wieder im Talgrund angekommen, sucht Raphaël Mayoraz zum Abschluss noch die Stelle zwischen Sitten und Uvrier auf, wo sich letzten Januar ein rund 500 Kubikmeter grosser Felsbrocken gelöst hat und auf die Strasse gestürzt ist. Der Standort wird seither durchgehend durch ein Warnsystem überwacht. «Sobald das Gerät verstärkte Felsbewegungen vermisst, wird ein Alarm ausgelöst. Je nach Stärke der Bewegungen können wir umgehend reagieren und Sofortmassnahmen einleiten.» Diese Systeme seien vergleichsweise kostengünstig und schneller realisierbar als bauliche Schutzmassnahmen und würden ausserdem einen geringeren Eingriff in die Landschaft erfordern.